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Reflexionen über die Oper

     
 
Oper für vier Busse – Die mobile Opernbühne
Eine lange Reise mit vielen Haltestellen

Ursula Rüter

Seit 1991 verfolgt Gisela Weimann ihr Opernprojekt – von der Vision über den langwierigen Weg der Finanzierung und die inhaltliche Umsetzung in Zusammenarbeit mit Künstlern aus verschiedenen europäischen Ländern und Kunstsparten bis zur realen Reise in vier künstlerisch gestalteten Stadtbussen im September 2001 in Berlin. Die Oper für vier Busse hat seither als 'work in progress' viele Reiseetappen mit verschiedenen Haltestellen zurückgelegt.

1. Haltestelle: Moving Images – Seven days reflected, for Anna Liffey and Molly Malone, Dublin, Kulturhauptstadt Europas (1991)

City Centre Arts Centre: Die Installation Still live Sounds war das erste Bild einer siebenteilig angelegten Arbeit mit Spiegelfragmenten, die an sieben aufeinanderfolgenden Tagen entlang des Flusslaufes der Liffey in Dublin inszeniert werden sollte. Aus Kostengründen konnte nur diese eine Szene verwirklicht werden. Die 24 großflächigen Sprossenfenster der langgestreckten Hausfassade des Kulturzentrums wurden mit Spiegelfragmenten verfremdet. Während einer Performance öffneten und schlossen 24 Akteurinnen in unterschiedlichem Rhythmus die beweglichen inneren Quadrate der Fenster. Das gesamte Gebäude schien sich durch die spiegelnden Bilder und die Reflektionen von Sonne, Licht und Wolken zu bewegen und zu verselbständigen. Als fünfte Tagesszene innerhalb des Gesamtzyklus hatte Gisela Weimann die Aktion Bewegte Häuser geplant: Stadtbusse und andere Fahrzeuge sollten mit Spiegelfragmenten gestaltet durch Dublin fahren.

2. Haltestelle: Light / Mirror Weaving, Los Angeles County Museum (1997)

Eine Generalprobe für die Oper für vier Busse war die Arbeit Light / Mirror Weaving, die im Rahmen der Ausstellungsreihe Windows on Wilshire des County Museums im ehemaligen May-Kaufhaus neben dem Museum stattfand. Gisela Weimann setzte hierbei ein Konzept für die zentrale gläserne Eingangstür und die beiden flankierenden Schaufenstervitrinen um. Schmale senkrechte Spiegelstreifen wurden doppelseitig in regelmäßigen Abständen auf der Glastür und den Fenstervitrinen angebracht. Auf den rückwärtigen gewinkelten Wänden der Vitrinen und auf deren Boden wurden, ebenfalls in gleichen Abständen, waagerechte Spiegelstreifen befestigt. Die vielen Spiegelbänder erschienen in Verbindung mit den freibleibenden Zwischenräumen aus Glas wie ein gewebtes Muster. Als ein Kontrast zu dem strengen Grundprinzip der Installation ergab sich aus dem Wechselspiel der vielfältigen, sich multiplizierenden Spiegelungen ein verwirrendes Bildgeflecht aus ständig neuen Bildfragmenten der belebten Umgebung. Das faszinierende Spiel der Reflexionen des Lichts, der Passanten, des Straßenverkehrs und der Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite hob jegliche Orientierungsmöglichkeit für den Betrachter auf.

3. Haltestelle: Follow Me. Probefahrt im Kultur- und Technologie-zentrum Rathenau in Berlin-Oberschöneweide (2000)

Busse wurden von den Besuchern bei der szenischen Voraufführung vergeblich gesucht: Sie waren an diesem Abend nur imaginär vorhanden. Die fast 10.000 Quadratmeter umfassende leerstehende Werkhalle des ehemaligen VEB- Kabelwerkes verwandelte sich an diesem Abend akustisch in ein gigantisches Fahrzeug.
Zu Beginn der Inszenierung drehte ein Elektroauto mit der Blinkschrift ”Follow Me” auf dem weiträumigen Außengelände der Industrieanlage einige Runden und geleitete das wartende Publikum durch ein sich langsam öffnendes Rolltor in die historische Fabrikhalle. Hier wurden die Besucher im Halbdunkel des von mächtigen Stahlsäulen gestützten Raumes empfangen und zunächst ihren Eindrücken überlassen.
Jeder Komponist 'steuerte', unterstützt von mehreren Solisten, einen Bus: Friedrich Schenker den ”deutschen”, Krzysztof Knittel den ”polnischen”, Melvyn Poore den ”englischen” und Patrick Kosk den ”finnischen”. Die vier Halte- und Umsteigepunkte der Busse waren Schnee, Wald und Meer (Finnland), Geradeaus (England), Goethefaustzweischnittchen (Deutschland) und Spiegelverkehrte Reise (Polen). Georg Katzers Motorenlied, ein Klangteppich aus elektroakustisch manipulierten und montierten Motor- und Fahrgeräuschen, erklang zu Beginn der Aufführung und als Zwischenmusik und verband als ein übergreifender 'Generalbus' alle vier Stationen miteinander.
Klang- und Lichttechnik schufen in der Weite der dunklen Halle punktuell vier Raumbereiche, die jeweils einem Akt und damit einem europäischen Land gewidmet waren. Auf diesen 'Inseln' sorgte die Lichtregie für dramatische Effekte: Schatten, die auf Wände und Fußboden fielen und farbiges Licht unterstrichen dramatisch den spezifischen Charakter der vier Orte und der Musik, ließen das Publikum im Wechsel Kälte, Wärme, Einsamkeit und Bedrohung empfinden und vergrößerten und verdoppelten zeitweilig die Akteure. Diese bewegten sich während ihres Auftritts in glitzernden Kostümen und beleuchteten Kopfbedeckungen, die mit geometrischen Spiegelelementen aus Rechtecken, Quadraten, Dreiecken und Rhomben bestückt waren, durch den Raum. Technische Einbauten wie Kessel, Röhren und Eisentreppen oder ein Kran mit Plattform wurden als 'Spielorte' und Instrumentarium in die Inszenierung einbezogen. Den vier Opernakten folgend wandelte das Publikum durch die Industriehalle, von einem imaginären Busschauplatz zum anderen und somit symbolisch durch Europa.

4. Haltestelle: Künstlerische Konzeption und Gestaltung der mobilen Opernbühne, Berlin (2001)

Vier altgediente Linienbusse der BVG hat die Künstlerin über viele Wochen in Zusammenarbeit mit einer Glasermeisterin in einem Betriebshof in Berlin-Wedding zu Kunstobjekten umgestaltet. Mit dem künstlerischen Konzept knüpfte sie an ihre Erfahrungen mit der Installation Light / Mirror Weaving an: Ein strenges geometrisches Muster aus Spiegelstreifen bildet ein Gewebe, das jeweils den gesamten Bus wie eine zweite Haut überzieht und ihn als Hülle für ihr multimediales Kunstprojekt präpariert. Für jedes Land wählte Gisela Weimann einen anderen Verlauf der zehn Zentimeter breiten Spiegelstreifen, mit denen die gesamte Fläche der Busse und die Fenster innen und außen im Abstand von ebenfalls zehn Zentimetern beklebt wurde. Beim ”russischen Bus” (der bei der Berliner Uraufführung den ”polnischen” ablöste) waren die Spiegelsegmente senkrecht, beim ”deutschen Bus” diagonal, beim ”englischen Bus” waagerecht und beim ”finnischen Bus” in einer Zickzacklinie angeordnet. Die einzelnen Streifen waren innerhalb des jeweiligen geometrischen Systems noch einmal versetzt. Dadurch entstanden zusätzlich vielfache Brechungen und Sprünge in den Spiegelungen.
Die Anordnung der Spiegel an den Fenstern ließ durch die regelmäßigen Zwischenräume den Durchblick nach außen frei und täuschte die Wahrnehmung dadurch, dass Spiegel- und Glasfläche kaum zu unterscheiden waren. Im Innenraum des deutschen und des russischen Busses bildeten kleine runde Spiegel an der Decke zusätzlich einen reflektierenden Sternenhimmel, während im finnischen Bus die normale Deckenbeleuchtung aus fünf Neonröhren in eine 'Lichtdecke' mit elf Neonlampen verwandelt wurde und im englischen Bus schmale, waagerecht verlaufende Spiegelstreifen an der Decke das Grundmuster aufgriffen.
Unverändert blieb in den Bussen alles, was an ihren Einsatz im Stadtverkehr erinnert, wie die Hinweisschilder ”Rauchen verboten”, ”Notausstieg” oder ”Ein- und Ausstieg für Personen mit Kinderwagen”.
Gisela Weimann liebt den künstlerischen Eingriff in vertraute Alltagssituationen; bei ihrer Oper für 4 Busse fasziniert insbesondere die Fahrt in einem ehemaligen Stadtbus, die für die Mitfahrer keine gewohnte Alltagsfahrt mehr ist, sondern eine völlig neue visuelle und akustische Erfahrung darstellt. Die Opernfahrt in den schwankenden und brummenden Bussen verlangte auch den Komponisten und Solisten andere Ideen und spontane Reaktionen ab. Bemerkenswert an dieser Arbeit von Gisela Weimann ist, wie weit sie das Spiegelmotiv vorantreibt, es stetig verändert und zu einem Medium der Kommunikation macht. Auf welche Weise tritt der Dialog zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit, innerer und äußerer Welt in einen komplexen Zusammenhang mit der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Künstlerin, den anderen Künsten, den künstlerischen Ausdrucksformen und den beteiligten Besuchern?

5. Haltestelle: Einsteigen bitte! "Eine imaginäre Reise durch Europa” auf der Museumsinsel in Berlin-Mitte (2001)

Uraufführung! Start der Oper für vier Busse war der 31. August 2001 in Berlin-Mitte vor der beeindruckenden Kulisse des Alten Museums am Lustgarten. Nach langjährigen Vorbereitungen setzten sich die Busse wirklich in Bewegung. Die ”imaginäre Reise durch Europa” begann auf dem Gelände der Museumsinsel, deren zum Weltkulturerbe zählende Bauten zum erweiterten Bühnenraum für die mobilen, spiegelnden Busobjekte wurden. Zu Beginn jeder Aufführung standen alle vier Busse am Fuß der langen, hohen Freitreppe des Alten Museums hintereinander bereit. Ein hallender Gongschlag markierte den Beginn der Aufführung. In Gruppen erschienen zuerst die Busfahrer in einfarbigen Overalls und dann die Akteure mit ihren glitzernden Kostümen und beleuchteten Kopfbedeckungen in der Eingangshalle des Museums und stellten sich auf der hell erleuchteten Treppe vor. Anschließend begab sich jede Crew zu ihrem Bus und lud die Zuschauer entsprechend der Nummernfolge auf ihren Eintrittskarten zu einem fünfzehnminütigen Opernakt ein; aus- oder umsteigen während der Fahrt war nicht möglich. Am Ende der jeweiligen experimentellen musikalischen Darbietung wechselten die Zuschauer in den nächsten Länderbus. Die genau festgelegte Choreographie der Tour führte im Schritttempo auf verschlungenen Wegen über die Museumsinsel. Vom Alten Museum rollte die Karawane über die Bodestraße, vorbei an den Kolonnaden vor der Alten Nationalgalerie und am Neuen Museum hinein in die Innenhöfe der Museumsinsel, die derzeit eine der größten Baustellen Berlins ist. Die Streckenführung über das enge Gelände mit seinen Containern, Bauzäunen, Schuttbergen, Gebäuden und schmalen Durchfahrten erforderte das ganze Können der Busfahrer. Die vierfache Reise endete wieder vor dem Alten Museum.
Durch die intime Situation in den Bussen und die Auflösung der Grenze zwischen Bühnen- und Zuschauerraum ergab sich ein intensiver Dialog zwischen den Solisten und dem Publikum. Die verfremdeten elektronischen Klänge der Instrumentalkompositionen legten sich akustisch über die realen Fahrgeräusche im Businneren, dessen Ausstattung in die Kompositionen und szenischen Abläufe einbezogen wurde. Im ”finnischen Bus” hingen an den waagerechten Haltestangen zusätzliche Klangrohre, die während der Aufführung wie Glocken angeschlagen wurden. Den ”russischen Bus” füllten von der Decke herabkommende Plastikschläuche aus, die durch ein geschlossenes Rohrsystem miteinander verbunden waren. Die Sängerinnen nutzten die Schlauchenden als 'Sprachrohre'', während das Publikum sie als 'Hörrohre' einsetzte, durch die verfremdeter Sprechgesang zu hören war. Jeder Winkel der beengten 'Bühne'' im Fahrgastraum wurde von den Solisten genutzt. Musizierend durchmaßen sie den Gang zwischen den Sitzen, setzten sich auf freie Plätze neben die Zuhörer oder platzierten sich dort, wo sonst Kinderwagen und Gepäckstücke stehen.
Bei den Vorstellungen zu verschiedenen Tageszeiten war das Erlebnis der Fahrt in den mobilen Opernbühnen unterschiedlich. Bei der früheren Aufführung wirkte die Umgebung durch das Resttageslicht vertrauter und erlaubte eine größere Konzentration auf die musikalische Ebene, bei dem späteren Termin verstärkte sich das visuelle Gesamterlebnis durch intensive Lichtspiegelungen. Entlang der Strecke aufgestellte Scheinwerfer erzeugten wirkungsvolle Effekte, indem sie die reflektierenden Spiegelmuster der vorbeifahrenden Busse an die hohen Fassaden der Museumsgebäude warfen. Umgekehrt zeichnete sich die Umgebung silbrig glänzend auf der Oberfläche der Busse ab.
Die mobilen Spiegelkabinette stellten die eigene Wahrnehmung auf die Probe und spielten mit ihr, indem sie sich mit der Realität vermischten. Für die Zuschauer war es selbst bei größter Konzentration kaum möglich, den Verlauf von Fenster- und Spiegelscheiben zu unterscheiden oder einzelne Spiegelbahnen zu verfolgen.
Unendlich wiederholte Bildräume und bildnerisch miteinander verwobene, fantastische Muster erzeugten die Illusion eines komplexen Raumtheaters mit verschobenen Ebenen, die der Blick durch die freigelassenen Sichtfelder an den Fensterscheiben und auf die spiegelnden Kostüme verstärkte. Zusätzlich verlängerten große konvexe Verkehrsspiegel an der Rückseite der Fahrerkabinen den Fahrgastraum so endlos, dass er sich verschwommen in der Ferne verlor. Durch das Ineinandergreifen verschiedener Wahrnehmungsräume hatte jeder Teilnehmer individuelle Spiegelerlebnisse – und alle wurden, freiwillig und unfreiwillig, zu Akteuren der mobilen Operninszenierung.
Die Choreographie erreichte ihre Höhepunkte, wenn ein Bus stehen blieb und die anderen langsam an ihm vorbeizogen, die Busse sich gegenseitig überholten, zu viert nebeneinander her fuhren oder einen regelrechten Tanz um eine große Platane im Hof der Museumsinsel aufführten. In diesen Momenten entstanden durch die sich überlagernden und sich multiplizierenden Spiegelungen Gewebeformen und unzählige kleine Bildsequenzen als Standbilder oder wie in einem fortlaufenden Filmstreifen. Die Einzelbilder verwandelten sich in Malerei, die traumhafte farbige Welten mit einer komplizierten Bildstruktur abbildete.
Der eigene Blick begann zu flirren. Schwindel setzte ein. Wo fing die reale Welt an und wo hörte sie auf? Die Intensität des Erlebnisses nahm zu, wenn in der nächtlichen Atmosphäre Wort- und Tonfetzen aus den anderen Bussen, den Open-Air-Kinovorstellungen vor dem Alten Museum oder Alltagsgeräusche vorbeiflogen und sich mit der Musik in den Bussen vermischte. Wo waren wir? Eingeschlossen begegneten wir einander und immer wieder uns selbst im eigenen Spiegelbild beim Blick aus dem Fenster.
Durch Spiegelungen und Musik erreichte Gisela Weimann eine Entgrenzung von Innen- und Außenraum; die Oper hat das Opernhaus verlassen und findet ihr Publikum auf der Straße. Bei diesem multimedialen künstlerischen Projekt treffen komplexe, zu be-spiegelnde Schichten aufeinander, die ein einfaches (Sich)Spiegeln weit hinter sich lassen.

6. Haltestelle: Weiterfahrt
Die mobile Opernbühne on the road (ab 2002)


Wohin die Reise geht, ist noch nicht festgelegt. Die Oper für vier Busse ist als Opernhaus auf Rädern beweglich, autonom und ein potentieller Spiegel vieler Realitäten.

Berlin 2001

 
 
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