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Reflexionen über die Oper

     
 
Oper für vier Busse: Dekonstruktion einer großen Idee

Dorothea Kolland

Ich gestehe: Ich liebe Oper.
Ich war heilfroh, dass man in meiner Jugend davon absah, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen und dass das angesagte Ende der Oper nicht eintrat. Ich gehöre zu denen, die alle vier Opernhäuser (natürlich vier, die "Neuköllner Oper" zählt mit) in Berlin erhalten wollen. Ich bin außerdem sehr dafür, ein neues, ganz anderes Haus für Avantgarde-Musiktheater zu bauen: dann hätten wir fünf Opernhäuser. Allerdings würde ich gern das eine oder andere am Spielplan ändern. Ich bin sicher, die Oper ist noch längst nicht am Ende, denn sie weist unendlich viele Entwicklungsmöglichkeiten auf.

Ich liebe die vielfältigen Dimensionen dieser Gattung und die Entfaltungsmöglichkeiten von Sinnlichkeit, die die Oper birgt. Ich liebe aber auch das In-Frage-stellen, das Merkwürdige, das Grenzen Austestende. So animierte mich sofort Gisela Weimanns Idee einer "Bus-Oper", auch wenn sie damit meine Opernzuneigung vollkommen an der Nase herumführte - blieb doch von der traditionellen Kohabitation von Musik, Theater, Bild, Raum und einer Geschichte nichts übrig. Was hier stattfand, war Dekonstruktion eines im Kanon der europäischen Kunst verankerten Gesamtkunstwerks, um Wagners Idee zum pars pro toto zu erklären.

Was passierte: Die bildende Künstlerin Gisela Weimann zerlegte die Oper in einzelne Bestandteile - nicht ohne ironische Hintergedanken, doch wäre es völlig gefehlt, ihre Arbeit lediglich als ironische Anmerkung zu einer großen Gattung zu verstehen. Sie wies diesen Teilen andere Funktionen zu und setzte sie völlig neu zusammen. Daraus entstand kein neues musikalisches Werk mit klarer kompositorischer Handschrift, sondern eine temporäre, mit Zeitkünsten spielende Raumskulptur, an der viele künstlerische Handschriften beteiligt waren - Gisela Weimanns eigene ebenso wie die der Komponisten und der virtuos lenkenden Busfahrer. In vier Akten, die jeweils die reale Gestalt von Bussen annahmen, wurden das Publikum, die Sänger, der Orchestergraben und der Theaterraum zusammengepfercht. Das traditionelle Bühnenbild löste sich vom konkreten Raum ab und huschte vor den Busfenstern vorbei, in seiner Wahrnehmung jedoch gesteuert durch Spiegel und Spiegelungen an den Busscheiben, die die Grenzen zwischen Innen und Außen aufhoben. Dieses Konzept der Dekonstruktion von Oper, gepaart mit der Verwirrung der Wahrnehmungsgefühle durch die Verspiegelungen, war das eigentlich Aufregende an diesem Opernereignis, das durchaus als Gesamtkunstwerk zu bezeichnen ist.

Gisela Weimanns Idee ist verblüffend: Sie sucht vier Komponisten (als Weltbürgerin wählt sie Menschen unterschiedlicher kultureller und künstlerischer Herkunft) und vier Busse (die schwerer zu finden waren als die Komponisten). Sie begeistert die Komponisten dafür, jeweils ein circa 15 Minuten langes Werk zu schreiben, das - in kammermusikalischer beziehungsweise solistischer Besetzung - Instrumental-, Vokal- und elektronische Musik ermöglicht, kleidet Busse wie Musiker mit Spiegeln ein und lässt die vier Busse mit ihren vier musikalischen Lasten und je einem Viertel des Publikums fahren. An vier Umsteigepunkten tauschen die Fahrgäste die Busse; die Reihenfolge der jeweils zu erlebenden Musik ist nicht fixiert. Dadurch ergibt sich für jede Publikumsgruppe ein anderes‚Werk'. Diese aleatorische Konzeption macht den Aufbau von Spannungsbögen jenseits der einzelnen Akte unmöglich, zumal die einzelnen Kompositionen keinen Bezug aufeinander nehmen.

Georg Katzer, dem fünften Komponisten, gelingt mit seiner leitmotivischen Komposition die musikalische Kupplung: Elektronisch verfremdete Motorengeräusche empfangen die Besucher bei jedem Einsteigen zur Reise in ein anderes Land, mischen sich zeitweilig unter die realen Motorengeräusche der anfahrenden, kreisenden und bremsenden Busse und unter die einzelnen Kompositionen.

Den "Russischen Bus" gestalteten Natalia Pschenitschnikova und Maacha Deubner musikalisch und gestisch mit Gesängen und Geräuschen, die Assoziationen an russisch-orthodoxe Kirchenmusik wecken. Von der Decke hängende Schläuche riefen OP-Ängste hervor und erinnerten mehr an Wiederbelebungsübungen, als dass sie die ihnen zugedachte akustische Funktion erfüllten.

Kunstvoller ging es im "Deutschen Bus" mit der Musik von Friedrich Schenker zu. Goethefaustzweischnittchen wurden hier von der temperamentvollen italienischen Sängerin Anna Clementi und zwei Tuba-Bläsern serviert: Hier tritt zu Weimanns Dekonstruktion der Oper Schenkers virtuose Dekonstruktion beliebter Klassiker-Texte, schnell und heftig an den Kopf geschleudert wie Pointen im guten Kabarett.

Der "Finnische Bus erzählte - naheliegend - von Schnee, Wald und Meer, nach Berlin getragen von Patrick Kosk. Bei ihm hatte sich der ganze Bus in ein Schlagzeug verwandelt; außer merkwürdigen Importen wurden alle Röhren, Stangen und sonstigen harten Gegenstände als Klangerzeugungsquelle genutzt, zusätzlich verfremdet durch Live-Elektronik.

Zum Finale wurde für mich der englische "Bus 2", den ein Bassklarinettist und ein Stimmkünstler meisterhaft mit Klängen füllten. Ausgehend von Texten des Iren John Montague und der Inderin Sujata Bhatt wurde über kulturelle Vielfalt und ihre Unterdrückung, über Identitäten und Leitkulturen reflektiert. Die Performance bezog sich sehr direkt auf die räumlichen und akustischen Möglichkeiten des engen Busses, ließ dabei jedoch die Unendlichkeit und Weite von Weltkultur erahnen und verbot Schein-Versöhnung durch Vereinheitlichung.

Wahrscheinlich werden nicht alle Bus-Akte als Weltkulturbeitrag in den großen Konzertsälen dieser Welt Bestand haben. Das ist aber nicht entscheidend für die Analyse der Bus-Oper. Wichtig ist, dass Weimann europäisch arbeitet und denkt, indem sie die nationalen Mosaiksteine, die Europa ausmachen, zur Sprache kommen lässt. Spannend für mich war an diesem Abend Ende August das nächtliche Durchfahren der Hinterhöfe - die‚Dienstbotenaufgänge' der Museumsinsel - und damit die Entdeckung einer Welt, die sonst verborgen ist. Wichtig und spannend zugleich aber ist vor allem Gisela Weimanns Ansatz, Oper auf den Kopf zu stellen, auseinanderzunehmen, die Rollen und Funktionen anders zu verteilen und neu zusammenzusetzen. Die Bus-Oper ist Teil ihres Werk-Komplexes Spiegelungen: So wie sie mit realen Spiegeln arbeitet, mit Spiegelschnipseln, Zerrspiegeln, Rückspiegeln, Spiegelungen des Spiegels, Spiegelungen von Realität, bis man nicht wer weiß, was gespiegelte Realität und was Spiegel ist, so zer-spiegelt und dekonstruiert sie ihr eigenes Werk und die Gattung Oper. Sie zerstört damit keineswegs diesen Leuchtturm europäischer Musikkultur aber sie setzt mit ihrem allumfassenden Vexierspiegel Fantasien in Gang, die in das‚große' etablierte Musiktheater eingebracht werden können.

Berlin 2001

 
 
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